Katalonien am Tag danach: Madrid signalisiert mehr Repression

(berriak-news/Ingo Niebel) Am Tag nach dem katalanischen Referendum ignoriert das offizielle Spanien dessen Existenz wie auch den Umstand, das zwischen zwei und drei Millionen es ermöglicht haben – trotz aller Verbote und polizeilicher Repression. Die Unabhängigkeit ist der zwingende Ausweg, da aus Madrid weitere Repressalien drohen.

Was geschieht zuerst: Katalonien erklärt sich von Spanien unabhängig oder Madrid setzt die katalanische Autonomie aus und nimmt die Regierung von Carles Puigdemont fest? Die Antworten werden sich ab heute Nachmittag und bis Mitte der Woche einstellen. Sicher sind im Moment nur zwei Punkte: Morgen findet in Katalonien ein Generalstreik statt, um gegen die gestrigen Polizeiexzesse und die Madrider Politik zu protestieren. Heute Nachmittag will sich Spaniens Premier Mariano Rajoy (PP) mit dem Oppositionsführer Pedro Sánchez (PSOE) und dem Chef der neurechten Ciudadanos, Albert Rivera, treffen. Außerdem hat er angekündigt, er wolle vor dem spanischen Parlament eine Regierungserklärung abgeben.

Eine weitere Eskalation steht an, da Rajoy keinen weiteren Spielraum mehr hat, um seine politische Linie in Katalonien durchzusetzen, solange er eine Verhandlungslösung ausschließt. Ergo müsste er per Artikel 155 die dortige Autonomie außer Kraft setzen, um die Regionalexekutive übernehmen zu können. Rivera und rechte Medien drängen ihn dazu.

Das bedingt, alle diejenigen zu belangen, die das gestrige Referendum ermöglicht haben – angefangen bei Präsident Puigdemont und seinen Regierungsmitgliedern über die Verwaltung und die katalanische Polizei, die Mossos d‘Esquadra, bis hin zu den Wahlhelfern. Staatsanwälte ermitteln schon gegen sie; Kommentatoren reden bereits davon, die Mossos aufzulösen, und schelten Rajoy dafür, nicht schon früher zum Artikel 155 gegriffen zu haben. Den Verdächtigen drohen empfindliche Geldstrafen und sogar Gefängnis.

Folglich kann nur noch die Unabhängigkeit die Betroffenen mittelfristig vor weiterer Repression durch den spanischen Zentralstaat und seiner Exekutive schützen. Dass Einheit stark macht, hat der gestrige Tag gezeigt.

Zwei Stunden nach Öffnung der Wahllokale ging es nicht mehr um die Unabhängigkeit Kataloniens und darum, ob das Referendum juristischen Anforderungen entspricht, sondern nur noch um Demokratie versus Polizeistaat.

Um spätestens 10 Uhr hatte Madrid den Kampf um die seiner Meinung nach „illegale“ Abstimmung verloren: Dann liefen nämlich die ersten Bilder über die sozialen Netzwerke, die zeigten, wie Puigdemont zur Urne schritt und seine Stimme abgab. Das Foto hatte die Regierung Rajoy verhindern wollen und deshalb ihre polizeiliche Elite-Truppe, die Guardia Civil, zu Puigdemonts Wahllokal geschickt. Die Polizisten schlugen sich mit einem Vorschlaghammer durch die gläserne Eingangstüre des Schulgebäudes, besetzten und durchsuchten es, bevor sie unverrichteter Dinge abziehen mussten. Die anwesenden Wahlhelfer blieben friedlich, den Guardia Civiles schmetterten sie das Freiheitslied L‘Estaca und die katalanische Nationalhymne entgegen. Dem Geheimdienst der Zivilgarde war entgangen, dass Puigdemont andernorts zur Wahl schreiten würde. Alle hochrangigen Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung taten es ihm gleich. Trotzdem oder gerade deswegen rief niemand die Polizei zurück, die immer massiver und gewalttätiger gegen die Wähler vorging.

Über die tatsächlichen Urnen wachten Vertrauensleute der Unabhängigkeitsbewegung. Sie waren so gut versteckt, dass die spanische Polizei sie bis zum Wahltag nicht fand. (Quelle des Fotos: Soziale Netze)

Dass das Referendum überhaupt stattfand, war möglich, weil genügend Wahlhelfer zur Verfügung standen trotz des Verbots und aller polizeilicher Massnahmen, die in den letzten zehn Tagen stattfanden. Unter normalen Umständen wären allein dafür 40 000 Menschen nötig gewesen. Weitere etliche Tausend schickten sich an, ab Freitag die 2315 geplanten Wahllokale vor der Polizei zu besetzen. Und dann kamen die unzähligen Menschen hinzu, die wählen wollten. Wie viele es wirklich waren, wird man wohl niemals genau wissen, weil Madrid die dafür nötigen Mindeststandards ausgesetzt hatte. Bis drei Millionen Personen sollen nach Angaben der katalanischen Regionalregierung an der Abstimmung teilgenommen haben. Gut 700 000 Stimmen konnten nicht gewertet werden, da die spanische Polizei die Urnen und Wahlzettel konfiszierte. Von den knapp 2,3 Millionen abgegebenen Stimmen sprachen sich 90% für die Unabhängigkeit aus.

Der Punkt kann nicht mehr sein, die Glaubwürdigkeit dieser Zahlen in Frage zu stellen, sondern sich zu fragen, was es bedeutet, wenn sie stimmen: Welche Regierung kann es sich erlauben, gegen eine Million, geschweige denn zwei oder drei Millionen Bürger, die Zivilcourage gezeigt haben, ihre Politik mit Polizeigewalt durchsetzen zu wollen? Wer das will, muss zu den diktatorischen Mitteln des 20. Jahrhunderts zurückkehren.

Noch traut sich Brüssel nicht, eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Rajoy soll‘s richten. Damit könnte er ein weiteres Mal überfordert sein.

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