Katalonien: Politik ist die Kunst des Möglichen

(berriak-news/Ingo Niebel) Dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck wird der Satz zugeschrieben, die Politik sei die Kunst des Möglichen. Gestern agierte Kataloniens Präsident Carles Puigdemont im Sinne dieser Aussage. Rückzieher oder taktischer Schachzug fragen sich jetzt viele. 

Seit dem Referendum vom 1. Oktober waren die Emotionen stetig gestiegen sowohl bei den Verfechtern der katalanischen Unabhängigkeit wie auch bei den Unionisten, die Katalonien den Austritt aus dem spanischen Königreich verweigern. Eigentlich erwarteten beide Seiten gestern von Puigdemont, dass er ohne Umschweife die Unabhänigkeit erklären und die katalanische Republik ausrufen würde.

Den Españolistas wäre das nur allzu recht gewesen, hätten sie dann sofort gegen den “President” (so die offizielle Amtsbezeichnung) und das katalanische Gemeinwesen zuschlagen können. Dass das wörtlich zu nehmen ist, zeigt nicht nur der brutale Polizeieinsatz vom 1. Oktober gegen friedliche Wähler mit knapp 900 Verletzten und die gewalttätigen Übergriffe von Faschisten gegen Linke und Unabhängikeitsbefüworter in Valencia vorgestern, sondern auch die Tatsache, dass Madrid drei Kriegsschiffe in Barcelona einlaufen ließ und Elite-Polizisten dort bereit hielt, um Mitglieder des Govern von Puigdemont festzunehmen.

Auf der anderen Seite erwarteten viele Unterstützer einer katalanischen Republik von Puigdemont, dass er gestern klipp und klar die Unabhängigkeit erkläre, quasi als Extra-Quittung für all die Drohungen, die das politische Madrid in den letzten Tagen gegen sie ausgestossen hat.

Nur: Emotionen sind immer schlechte Ratgeber. Besonders dann, wenn es um von Entscheidungen mit Tragweite geht. Dass die Katalanen in ihrem Streben nach Unabhängikeit überhaupt so weit gekommen, hat sicherlich mit Gefühlen zu tun, vor allem aber mit einem planvollem Vorgehen.

Je näher Puigdemonts Rede rückte, desto klarer wurde, dass er nicht bereit wäre, von seinem Weg abzuweichen – trotz der Drohungen aus Madrid gegen ihn persönlich und dem jüngsten Bestreben der Regierung Rajoy, so viele Firmen wie möglich dazu zu bewegen, ihren juristischen Firmensitz aus Katalonien wegzuverlegen.

EU-Präsident Donald Tusk bat Puigdemont keine Schritte zu unternehmen, die den Dialog unmöglich machen würden. Die EU zeigt aber weiterhin, dass sie noch nicht bereit ist, im Konflikt zwischen dem spanischen Zentralstaat und seiner katalanischen Peripherie zu vermitteln. Für diese Aufagen haben sich im Verlaufe des gestrigen Tages neben diversen Friedensnobelpreisträgern auch der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan ins Gespräch gebracht. Ähnliche Signale sandte der Europarat gestern aus.

Dass Katalanen sich von Madrid scheiden lassen wollen, ist klar, nur nicht, wer den Posten der Scheidungsrichterin einnimmt. Die EU möchte das nicht, weil sie sich auf diese Rolle nicht vorbereitet hat. Deshalb besteht sie, aber auch die eutsche Bundesregierung, auf einem Dialog im Rahmen der spanischen Verfassung.

Dass das Wunschdenken ist, wissen Kenner der spanischen Innenpolitik: Keine Zentralregierung, die die Volkspartei (PP) von Rajoy je gestellt hat, war fähig noch willens, ihre Binnenkonflikte mit Basken oder Katalanen per Verhandlung zu lösen. Dass die baskische ETA sich im April entwaffnete, ist nicht Rajoys Exekutive geschuldet, sondern einzig und allein der baskischen Zivilgesellschaft und deren internationalen Konfliktberatern. Dass Madrid letztere sogar juristisch verfolgen liess, sollte nicht unerwähnt bleiben.

Vor diesem Hintergrund kann niemand erwarten, dass PP, PSOE und Ciudadanos in Sachen Katalonien jetzt den Verhandlungsweg einschlagen werden. Vielmehr wird die Frage sein, ob sie per Artikel 155 Kataloniens Autonomie außer kraft setzen oder gleich per Artikel 116 den militärischen Ausnahmezustand über die Region verhängen werden. Ersteres kann die PP durch ihre Mehrheit im Senat alleine bewerkstelligen, für letzteres benötigt sie die Mehrheit im Kongress, die sie nicht hat. Hierfür bräuchte sie auf jeden Fall die Unterstützung der PSOE.

[pullquote]”In diesem historischen Moment, und als Präsident der Generalitat übernehme ich das Mandat, indem ich vor diesem Parlament und unseren Bürgern die Ergebnisse des Referendums präsentiere, dass Katalonien sich in einen unabhängigen Staat in Form einer Republik wandelt.”[/pullquote]

Angesichts dessen hätte Puigdemont gestern auch einfach die Unabhängigkeit erklären können. Damit hätte er das getan, was Madrid von ihm erwartete. Stattdessen hat der Präsident etwas Geschwindigkeit aus der Fahrt gen der eigenen Republik genommen, indem er dem Dialog, den ja auch Bundeskanzlerin Merkel fordert, und der Mediaton eine Chance gibt. Seine Rede, besonders der historische Abriss über den Weg Kataloniens zum 1. Oktober und somit zur Unabhängigkeit, richtete sich an die internationale Gemeinschaft, weniger an die eigenen Leute.

[pullquote]”Mit derselben Feierlichkeit schlagen wir, das Govern und ich, dem Parlament vor, die Wirkung der Unabhängigkeitserklärung auszusetzen, damit wir in den kommenden Wochen in den Dialog eintreten können, ohne den es nicht möglich ist, zu einer übereinkommenden Lösung zu gelangen.”[/pullquote]

Damit liegt der Schwarze Peter in Madrid, das ihn auch gleich aufnahm und nicht mehr hergeben will. Regierung und Opposition mit Ausnahme des Linksbündnisses Unidos Podemos werten Puigdemonts Rede und ein später unterschriebenes Dokument als “einseitige Erklärung der Unabhängigkeit”. Grund ist, dass die Parteien der Unabhängigkeitsbewegung wenn gleich rechtlich nicht bindend außerhalb des Plenarsaals und der Parlamentssitzung die Erklärung der Vertreter Kataloniens unterschrieben haben. Deren Ziel ist, eine katalanische Republik zu bilden. Selbige müsste das katalanische Parlament, nicht der Präsident ausrufen. Die Lage ist für Madrid juristisch heikel, da weder Puigdemont einseitig die Unabhängigkeit erklärt noch diese Begriffe in der Erklärung erscheinen. Das heißt aber nicht, dass Madrid deshalb von den obengenannten Zwangsmassnahmen gegen Barcelona absehen wird.

Die antikapitalistische CUP sieht ihr Vertrauen in den Koalitionspartner erschüttert und hat Puigdemont einen Monat Zeit gegeben, um die Republik formell auszurufen. So lange wird Madrid nicht warten. Jeder von dort unternommene Schritt, die den Dialog ausschließt, verstärkt den Eindruck, dass der spanische Zentralstaat unfähig ist, politisch zu handeln. Insofern mag Puigdemonts Rede den Anschein eines Rückziehers haben, vielmehr scheint er doch ein weiterer taktischer Schachzug zu sein.

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